KLEINES LOB DER TORHEIT

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Wissenschaft 4 Kommentare

Es kommt in jüngster Zeit oft vor, dass sich da und dort die humane Intelligenz über die angeblich künstliche auslässt. Bei beiden Arten der Informationsverarbeitung ist mir immer weniger klar, was man unter ‹Intelligenz› überhaupt versteht. Ich benütze ChatGPT inzwischen fast täglich. Ich betrachte GPT bloß als eine etwas ausgeklügeltere Suchmaschine, die mich Dokumente, Publikationen, Studien, Belege, Illustrationen und vieles mehr schneller und leichter finden lässt. Es käme mir nie in den Sinn, ChatGPTs Antworten als Quelle oder gar als bare Münze zu nehmen. Manchmal versteht die sogenannt künstliche Intelligenz meine Frage nicht und gibt völlig unbrauchbare Antworten. So teilte mir ChatGPT auf meine Frage, an welcher deutschen Universität die große Sammlung altgriechischer Verwünschungen auf Metall-Plättchen aufbewahrt ist, etwas ohne jeden Nutzen mit: Die Verzeichnisse der Exponate und Forschungsobjekte von Museen und Universitäten seien in der Regel auf deren Homepage einzusehen. Die Antwort ist zwar unbrauchbar, aber unsinnig ist sie nicht. Ich musste meine Frage bloß ein paarmal anders formulieren, dann bekam ich die Information, die ich suchte. Stellte ich dieselbe Frage jedoch einer sogenannten Humanintelligenz, war die Antwort meistens ein mit gerümpfter Nase und geschürzter Oberlippe ausgestoßenes «Hääää?», was auch kein wirklich besseres Licht auf die durchschnittlichen geistigen Fähigkeiten unserer geliebten Spezies wirf.

Seit ich pensioniert bin, besitze ich ein Generalabonnement der Schweizerischen Bundesbahnen, das mir ermöglicht, in der ganzen Schweiz mit fast allen öffentlichen Verkehrsmitteln, auch auf Schiffen der traumhaften schweizerischen Seen zu reisen. Ich liebe es, am Morgen in irgendeinen Zug zu steigen, zum Zentrum Paul Klee nach Bern, zur Stiftsbibliothek nach St. Gallen oder zu einer internationalen Ausstellung nach Lugano zu reisen. Ich klappe dann mein iPad auf und arbeite, schaue aus dem Fenster oder esse etwas Mitgebrachtes. Was ich auch oft tue, ist zugegebenermaßen nicht sehr rühmlich und wohl im Sinne irgendeiner Definition auch nicht wirklich intelligent: Ich gebe manchmal vor, in einem Buch zu lesen oder auf dem iPad zu arbeiten, während ich in Wirklichkeit den Gesprächen um mich herum lausche.

Immer häufiger geht es in diesen Diskussionen, denen ich heimlich zuhöre, ohne mich einzumischen, um die ominöse künstliche Intelligenz. Fast immer ist man sich einig, dass diese technische Entwicklung etwas schrecklich Gefährliches sei. Nun, wenn man einmal beiseitelässt, dass die vorgebrachten Argumente gegen ‹Artificial Intelligence› (ich ziehe den englischen Ausdruck deshalb dem deutschen vor, weil im Englischen ‹Intelligence› etwas anderes bedeutet als im Deutschen ‹Intelligenz›; man denke bloß daran, dass ‹Nachrichtendienste› und ‹Geheimdienste› auch ‹Intelligence› genannt werden) meistens so wenig intelligent sind, dass nicht einmal ChatGPT sie hervorbringen könnte, ist nicht von der Hand zu weisen, dass von der besagten Technologie wie von jeder technischen Entwicklung fraglos auch reelle Gefahren ausgehen! Und diesen Gefahren muss man mit Wachsamkeit begegnen und sie mit Entschlossenheit eindämmen! Dass AI beispielsweise den Schutz von geistigem Eigentum arg gefährdet, darf keinesfalls kleingeredet werden! Wenn man jedoch, statt sich gegen einen schädlichen und schändlichen Missbrauch zu stemmen, sich mit äußerst dümmlichen Argumenten über die Technologie selbst lustig macht, lässt man sich von einer ebenso gefährlichen Haltung antreiben wie in der Antike, als man den Überbringer einer schlechten Nachricht zu steinigen pflegte. 

Dazu kommt mir eine alte Geschichte in den Sinn: In der Primarschule mussten wir noch mit Feder schreiben. Wie viele Jahre die Praktik dauerte, weiß ich nicht mehr. Es gab in der Schulbank eingelassen ein Tintenfässchen, das jeweils von einem diensthabenden Schüler (vom Tintenwart!) nachgefüllt wurde. Ich glaube, es war im Verlauf der dritten Klasse, als gegen den Widerstand der konservativeren Lehrerschaft per Dekret der kantonalen Erziehungsdirektion der Gebrauch von Füllfederhaltern der Marken Pelikan® und Geha® zugelassen wurden. Andere Schreibgeräte wie Kugelschreiber blieben weiterhin und lange verboten. Kugelschreiber würden die Schrift verheeren, meinte ein älterer Lehrer, der es offenbar wissen musste, weil seine eigene Schrift völlig unleserlich und krakelig war. Aber an ein anderes Argument gegen die Verwendung des Kugelschreibers kann ich mich auch erinnern, das mich im ersten Moment beeindruckte: Frau Senn, eine herzensgute Lehrerin, erklärte uns, dass das Übel des Kugelschreibers darin liege, dass man jederzeit und sofort danach greifen und ohne zu überlegen etwas schreiben könne. Das würde dazu führen, dass man das Schreibgerät weniger bewusst einsetzt und gedankenlos drauflos schreibt. — Nun, sechzig Jahre später teile ich Frau Senns Ansicht vollkommen: der größte Teil von dem, was man mit Kugelschreiber je geschrieben hat, zeugt nicht von scharfsinniger Intelligenz. Dasselbe gilt freilich auch für Füllfeder, für Bleistift und für elektronische Schreibgeräte, die es damals noch nicht gab. Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob man die Verantwortung für einen Missbrauch einer Technologie der Technologie selbst statt dem eigentlichen Missbrauch in die Schuhe schieben kann. 

Kommentare 4

  1. Deine Ansichten und Kommentare, lieber Alberigo, bereiten mir jedesmal ein genussvolles Lesen. Im übrigen bin ich schon deshalb sehr froh, gibt es heute Kugelschreiber, Bleistifte und elektronische Schreibgeräte. Müsstest Du Deine Kommentare jedesmal in Stein meisseln, würde mir das jeweilige Warten darauf doch etwas arg lang…

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