Könige, Könige

Alberigo Tuccillo Literatur 4 Kommentare

Eine Zeit lang waren wir offenbar westwärts gezogen, dann eher südwärts — ich weiß es nicht so genau. Die Wüste sieht ja überall gleich aus. Ehrlich gesagt, ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Wir hatten vor Sonnenuntergang das Lager eingerichtet und wie ich es Abend für Abend immer tat, kümmerte ich mich um die Kamele. Die armen Tiere waren nach dem beschwerlichen Tagesmarsch durch das endlose Sandmeer sogar zu müde und zu angespannt, um sich ausruhen zu können. Ich streichelte sie, damit sie sich beruhigten, aber es half nicht. Ich hatte schrecklich Mitleid mit ihnen, obwohl mir selbst die Knochen so wehtaten, dass ich mich fragte, wem es denn auf dieser Welt schlechter geht, dem Kamel oder dem Kamelhüter.

Inzwischen war es Nacht, als ich eine Stimme hörte, die zu mir sprach: «Schön, schön, mein Junge. Ich sehe, dass du etwas von Tieren verstehst. Gut machst du das.» — «Wer ist da?», fragte ich aufgeregt und stellte die Lampe heller, die ich, um Öl zu sparen, bei kleiner Flamme gehalten hatte. — «Nur ruhig, Junge», fuhr die Stimme im Näherkommen fort, «keine Angst ich bin bloß hierher gekommen, um ein wenig mit jemandem zu plaudern, der gut zu den Tieren ist. — Leichten Herzens! sag ich. Ich tu dir nichts, und erst recht tu ich deinen Kamelen nichts.»

Die Stimme war sanft und wohlklingend, sodass sich meine Aufregung allmählich legte und ich erwiderte sogar scherzend: «Meine Kamele? Schon wär’s! Ich bin doch nur ein gewöhnlicher Diener und besitze nichts als diese halb leere Feldflasche und die schäbigen Kleider, die ich anhabe. Gehörte mir auch nur ein einziges dieser Kamele, ich fühlte mich wie ein König.

Na ja, in einem aber habt Ihr Recht: Die Tiere habe ich wirklich gern. Da täuscht Ihr Euch nicht, mein Herr.» Im fahlen Lampenlicht konnte ich jetzt das Gesicht des Fremden sehen, der bestimmt von weither kam. Zuerst dachte ich, er gehöre zu den Bediensteten jenes Königs, auf den wir mit unserer Karawane am Nachmittag gestoßen waren, der sich uns angeschlossen hatte, mit uns weitergezogen war bis zum Einbruch der Nacht und jetzt mit uns im selben Lager war. Dann aber hatte ich immer deutlicher das Gefühl, dass der Fremde eher selbst so etwas wie ein Fürst war als ein Diener. Es war eine Gestalt von eigenartiger Schönheit. Seine Haare und der Bart hatten eine merkwürdige Farbe; wie Gold oder so ähnlich. Und die Augen waren nicht schwarz, sondern wie der Morgenhimmel. Einen Augenblick lang glaubte ich zu träumen, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Er trug ein Gewand, das so weiß war, wie ich mir den Schnee vorstelle, den ich auch noch nie gesehen habe; keine verstaubten und abgetragenen Kleider, wie man sie bei jemandem viel eher vermuten würde, der viele Tage durch die Wüste gewandert ist. — Wo kam er bloß her?

Was jedoch ein Fürst im Kamelgehege eines fremden Königs zu suchen hatte, dem er zufällig in der Wüste begegnet war, fragte ich mich nicht mehr; dazu war ich einfach zu müde. Ich hatte nur Lust, mich hinzulegen und die wenigen Stunden auszukosten, die mir bis zum Sonnenaufgang zum Schlafen blieben.

Doch gleichgültig, ob er Fürst oder Diener oder selbst Kamelhüter war, er merkte nicht — oder wollte nicht merken —, wie müde ich war. Er plauderte weiter und gab mir auf einmal ein ziemlich verblüffendes Versprechen: «Ein Kamel, das dir allein gehört? Wenn es das ist, was du dir so sehnlichst wünschst, wird es nicht mehr lange dauern, und du wirst nicht bloß eines, sondern ein Dutzend davon besitzen!» — «Jetzt wollt Ihr mich wohl zum Besten halten», sagte ich traurig, «wer Ihr auch immer seid, es ist nicht nett von Euch, mich mit solchen Versprechungen zu plagen und Euch über meinen Wunschtraum lustig zu machen. Ich habe nie erwartet, dass mir der Himmel mehr beschere als das, was ich habe. Aber darf man denn nicht einen Wunschtraum haben, dem man sich ab und zu hingibt, ohne wirklich zu hoffen, dass er in Erfüllung gehe?»

«Ich habe dir versichert», sagte der vornehme Fremde, «dass ich weder dir noch deinen Tieren etwas Böses antun werde, drum glaube mir, dass es mir auch fern liegt, mich über dich lustig zu machen. Sag mir lieber, was du von der Reise weißt, auf der ihr euch befindet.» — «Ach, fragt mich doch etwas Leichteres. Ich habe keinen blassen Schimmer. Alles begann vor ein paar Wochen, als eines Nachts der Stern erschien, der seither an Westhimmel leuchtet. Ich und viele andere auch dachten zwar, dass es der strahlendste und der schönste Stern am ganzen Himmel war, aber eben ein Stern, nichts als ein Stern. Unser König jedoch stieg in jener Nacht auf den höchsten Turm des Palastes und blieb dort bis am Morgen, ohne je den Blick von dem neuen Gestirn zu lösen. Dasselbe tat er in der Nacht darauf und wiederholte es in den folgenden — und wieder und wieder. So waren bald zwei Woche verstrichen, und der König war weder zum Essen noch zum Schlafen vom Turm gestiegen. Am Tag ruhte er sich dort oben etwas aus und ernähren tat er sich von Datteln, die ihm gelegentlich ein Diener brachte, der gar keinen Befehl dazu bekommen hatte. 

Als vierzehn Tage und vierzehn Nächte verstrichen waren, stieg der König endlich vom Turm. Er befahl die Dienerschaft zu sich und ordnete an, alle Vorkehrungen für eine lange Reise zu treffen. Wir gehorchten als treue Untertanen, und noch am selben Abend machte sich die Karawane auf den Weg nach Westen, auch wenn nur zwei oder drei Stunden bis zum Sonnenuntergang fehlten. Wir schlugen denn auch schon das Lager auf, kurz nachdem wir die Wüste betreten hatten, und unsere Stadt war noch so nah, dass man im Osten, wo wir herkamen, einen feinen Lichtschimmer am Horizont sehen konnte.

Aber unser König sah nie gegen Osten. Sein Blick war und blieb nach Westen gerichtet, vom Stern gefangen, der von Nacht zu Nacht immer heller leuchtete. — In jener ersten Reisenacht begann das Gerücht umzugehen, dass uns die Reise zu einem andern König führen und dass der Stern unsere Schritte bis ans noch unbekannte Ziel lenken sollte.

So kam es, dass wir nach drei Tagesmärschen auf eine andere Karawane stießen, auf andere Kamele, auf andere Diener und auf einen andern König. Und da ging unser Herr dem andern Herrscher entgegen, und als sich die beiden begrüßt hatten, umarmten sie sich wie Brüder.

Es war wie in einem Märchen. Ein Stern hatte uns gelenkt, auch wenn ich nicht verstand, wozu dies gut sein sollte, und wir waren tatsächlich mitten in der Wüste einem König begegnet.

«Und was werden wir jetzt wohl tun?», fragte ich mich, «geht die Reise zurück oder werden wir an den Hof des andern Königs reisen?» — Zu unserer völligen Verblüffung ließen uns aber die beiden Könige rufen und erklärten uns, dass wir noch einen weiten Weg vor uns hätten und dass wir weiterhin dem Stern folgen würden, bis er uns zum König der Könige geführt haben würde.

«Ach, mein edler Herr, heute Nachmittag, als wir euch trafen, eine andere Karawane, andere Kamele, andere Diener und einen andern König, dachte ich, dies sei nun der richtige König, der rätselhafte König der Könige, und es sei endlich ausgestanden mit dem Hungern und Dürsten und Marschieren und dem kurzen Schlaf. Aber obwohl es inzwischen schon drei Könige sind, die eine nunmehr riesige Karawane anführen, sagen uns alle drei, den richtigen müsse man immer noch suchen. — Wie viele Könige werden wir denn noch treffen müssen? Morgen früh werden wir uns wieder auf den Weg machen, und niemand weiß, wie lange es noch so weitergeht.»

Der Unbekannte lächelte, als hätte ich etwas Lustiges gesagt, dann machte er schon wieder eine seltsame Prophezeiung: «Vor euch liegen nur noch wenige Meilen durch die Wüste, an deren Ende ein Land liegt, das Palästina genannt wird, und eine Stadt namens Bethlehem, welche dereinst die erhabenste unter den Städten sein wird, weil in ihr der König des Himmels und der Erde geboren ist. Dort wird eure Reise zu Ende gehen. — Nun habe ich aber eine Bitte an dich: Ich bin durstig; sei großzügig und gib mir aus deiner Feldflasche zu trinken.»

Es war schon sehr spät. Die Kamele hatten sich endlich beruhigt und dösten, und auch ich konnte vor Müdigkeit die Augen kaum mehr offenhalten. Ich reichte dem Fremden meine Feldflasche und brachte die Kraft nicht auf, mir darüber Sorgen zu machen, was mir anderntags bevorstand: peinigender Durst. Ich sah noch, wie der edle Herr die Flasche ansetzte und mein Wasser bis zum letzten Tropfen austrank. Dann schlief ich ein.

Jenen Fremden mit dem goldenen Haar und mit Augen wie der klarste Morgenhimmel sah ich nie wieder, aber jedes seiner Worte ging in Erfüllung. Wir erreichten in der Tat, wie er gesagt hatte, am darauffolgenden Tag die kleine Stadt Bethlehem, die damals niemand kannte, der mehr als eine Tagesreise von ihr entfernt wohnte, die aber dereinst jedes Kind kennen wird, wie der Fremde gesagt hatte. Wir fanden dort den König der Menschen, der jedoch bloß ein neugeborenes Kind war, das nicht aussah wie ein König — und wir knieten vor ihm nieder.

Mein irdischer König schenkte mir daraufhin, wie der Fremde offenbar schon gewusst hatte, zwölf Kamele, um mich für meine Dienste zu belohnen.

Da gibt es aber noch etwas Erstaunliches: Meine Feldflasche, die der geheimnisvolle Unbekannte in der Nacht leer getrunken hatte, war am darauffolgenden Morgen wieder mit frischem Quellwasser gefüllt, und seit jenem Tag, obwohl ich selbst mich oft daran gelabt und auch sehr viele Menschen dazu eingeladen habe, daraus zu trinken, ist das Wasser nie ausgegangen.

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Kommentare 4

  1. Was für eine schöne Geschichte! Und wie traurig, dass ich weder Kinder noch Enkel habe, denen ich diese wunderbare Geschichte unter dem Weihnachtsbaum vorlesen kann.
    Ein herzliches Dankeschön an Dich lieber Alberigo, dass Du uns immer wieder an Deinen traumhaften Fantasien teilhaben lässt!

    1. Post
      Author

      Danke für die ermutigenden Worte, Sabina! Schreiben ist ein ziemlich einsamer Job (etwas weniger einsam, seit meine wunderbare Silke die Texte sofort liest, kommentiert und mich jeweils kompetent berät). Das ist es ein schönes Weihnachtsgeschenk für mich, Leserinnen wie dich zu haben!

  2. Vielen Dank Alberigo. Ich werde die Geschichte an Heiligabend meiner Cousine vorlesen, wir machen das jedes Jahr und ich freue mich immer wenn ich eine schöne Geschichte gefunden habe. Nochmals Danke.
    Erika

    1. Post
      Author

      Danke, Erika! Das freut mich sehr! Ich wünsche dir und deiner Cousine von Herzen ein schönes Fest und viel Freude beim Lesen und beim Zuhören. Es wird auch die Könige erfreuen.

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