Rhythmus, Logarithmus und Algorithmus

Alberigo Tuccillo Sprache Schreibe einen Kommentar

Es gibt Wörter, die sich hervorragend dafür eignen, Sätze zu bilden, die eine Aussage, eine Stellungnahme, eine Ansicht oder Absicht vortäuschen, wenn man in Tat und Wahrheit bloß ausdrücken möchte, dass man keine Ahnung hat, was man sagen sollte, ohne diese Ahnungslosigkeit allerdings allzu deutlich einzugestehen. Ein solches Wort ist der ‹Algorithmus›, zudem meistens als ‹Algorütmus› grottenfalsch ausgesprochen. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Ü hat in diesem geheimnisumwobenen Wort definitiv nichts zu suchen! Dazu aber weiter unten mehr.

«Der Facebook-Algorithmus zeigt mir meine Freunde nicht mehr an.» oder «Der Algorithmus von YouTube hat mich wegen meines letzten Beitrags gesperrt.» sind so sinnvolle Aussagen wie etwa «Der Staubsauger hat meine Wohnung schon wieder nicht geputzt.», «Mein Bleistift hat einen holprigen Versfuß in mein Sonett gepfercht.» oder «Die Lokalanästhesie hat den Weisheitszahn meiner Nichte extrahiert.» — Dass bestimmte Algorithmen verwendet werden, um auf Facebook, auf YouTube, auf dem E-Banking-Portal, in der Mailbox, auf dem Taschenrechner, auf der Backofenuhr, auf der Programmübersicht des Fernsehers, auf der Haltestellenanzeige der Straßenbahn, auf dem Display der Heizanlage oder der Kaffee-Maschine irgendetwas anzuzeigen oder nicht anzuzeigen, ist nämlich genauso eine Binsenweisheit wie die Erkenntnis, dass die geraden Zahlen durch zwei teilbar sind.

Worum handelt es sich bei einem Algorithmus? Es ist nichts anderes als eine formal festgelegte Vorgehensweise, nach der eine definierte Aufgabe gemäß einer festgelegten schematischen Anordnung von Einzelschritten gelöst wird. In der Regel gibt es dabei einen Eingabewert, der in vorgeschriebenen Operationsschritten zu einem Ausgabewert umgeformt wird. Ein Algorithmus wäre beispielweise: «Ist die gemessene Temperatur im Kessel geringer als 100 ºC, bloß gemessene Temperatur anzeigen, ist die gemessene Temperatur höher als 100 ºC, zusätzlich zur Temperaturangabe die Alarmglocke und die Blinkanlage betätigen.» Auch die Anweisungen zum mechanischen Durchführen der Grundrechenoperationen oder des Dreisatzes, wie man sie in der Primarschule lernt und dann in der Regel wieder vergisst, sind Algorithmen. 

Was haben aber die Wörter ‹Algorithmus› und ‹Logarithmus› miteinander und was haben sie beide mit dem ‹Rhythmus› zu tun? Die Frage ist schnell beantwortet: Nichts! Gar rein nichts! Es handelt sich bloß um Wörter verschiedener Herkunft und Bedeutung, die durch eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit dazu verleiten, zwischen ihnen inhaltliche oder etymologische Zusammenhänge zu vermuten, die es nicht gibt.

Aber machen wir es uns nicht ganz so einfach und nehmen wir die drei Begriffe mitsamt ihren Derivaten unter die etymologische Lupe:

1. Das Wort ‹Rhythmus› ist die latinisierte Form von griechisch ‹ῥυϑμός› [rhythmós] (nach einem bestimmten Prinzip geordnete Abfolge von einzelnen Ereignissen oder wiederkehrenden Phasen) und leitet sich ab vom Verb ‹ῥέω› [rhéō] (ich fließe), ein Wortstamm, den man auch in Wörtern findet wie Diarrhö (Durchfall), Logorrhö (krankhafter unkontrollierter Redefluss), Rheuma, Gonorrhö (Tripper), Katarrh, Pyorrhö (Eiterfluss), Menorrhö (Monatsblutung), Sialorrhö (übermäßiger Speichelfluss) und in der Fluss-Göttin Rhea. Im Wort ‹Rhythmus› ist ein Ü in der Aussprache der ersten Silbe korrekt und sogar zwingend, da der Vokal ‹Υ, υ› (υ ψιλον, ü psilon, kahles Ü) in griechischen Wörtern als Ü ausgesprochen wird.

2. Das vom schottischen Mathematiker John Napier (1550-1617) erschaffene Kunstwort ‹Logarithmus› ist aus den griechischen Wortelementen ‹λόγος› [lógos] (Begriff, Wort, Bedeutung, Lehre, aber auch Verhältnis) und ‹ἀριϑμός› [arithmós] (Zahl, Wert) zusammengesetzt. Der Logarithmus ist eine Zahl, ein Exponent, mit dem eine vorher festgelegte Zahl, die Basis, potenziert werden muss, um die gegebene Zahl, den Numerus, zu erhalten. Es ist eine mathematische Methode, um mit großen Zahlen rechnen und gewisse mathematische Funktionen ausdrücken zu können, die in vielen Bereichen große Bedeutung haben: in der Mathematik selbst, in der Physik, in der Technik, in der Biologie, in der Chemie, in der Informatik, in der Soziologie, im Banken- und Versicherungswesen und vielen anderen Gebieten. Der Vokal der dritten Silbe in ‹Logarithmus› ist ein Iota und kein kahles Ü, also ist die Aussprache ‹Logarütmus› einfach bloß falsch, hässlich, unästhetisch, unverzeihlich, durch nichts zu rechtfertigen und nicht weiter zu kommentieren!

3. Und nun zur Etymologie des bereits in seiner Bedeutung erklärten ‹Algorithmus›: Auch dieses Wort ist ein lateinisches Kunstwort, aber diesmal haben die alten Hellenen nicht das Geringste dazu beigetragen. Das Wort ist eine Verballhornung des Namens al-Chwarizmi (geboren um 780; gestorben zwischen 835 und 850), eines persischen Mathematikers, der im frühen 9. Jahrhundert in Bagdad lehrte und durch seine Schriften die Mathematik entscheidend prägte und weiterentwickelte. In der arabischen Variante ‹الخوارزمی› [al-Ḫwārizmī] gelangten sein Name und seine Arbeiten im 12. und 13. Jahrhundert nach Italien, wo sie bei Mathematikern um Leonardo Fibonacci große Beachtung fanden, sodass der Spruch unter Mathematikern  üblich wurde: «Dixit Algorismi» (Algorismi hat gesagt, Algorismi lehrt…), wobei hier noch einzig die Person des großen Persers gemeint war. Eines der vielen mathematischen Verfahren nach Al-Gorizmi wurde später — wann genau und durch wen, ist nicht eindeutig festzustellen — ‹Algorithmus› genannt. Der Vokal der dritten Silbe in ‹Algorithmus› ist nicht nur kein kahles Ü, sondern aus mindestens drei Dutzend Gründen 3274 Kilometer von jeder vermeintlich griechischen Phonetik entfernt, also ist die Aussprache ‹Algorütmus› nicht einfach bloß falsch, hässlich, unästhetisch, unverzeihlich, durch nichts zu rechtfertigen und nicht weiter zu kommentieren, sondern vor allem so lächerlich, als wollte man eine ‹Lady mit ihrem Baby› als ‹Ladü mit Babü› aussprechen!

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