Vom Dringen und Drängen

Alberigo Tuccillo Gesellschaft, Sprache, Wissenschaft Schreibe einen Kommentar

Die gut sechstausend Jahre alte protoindoeuropäische Wurzel ‹*trǝnk› ist eine der ergiebigsten überhaupt! Sie hat in allen indoeuropäischen Sprachen Dutzende, nein, Hunderte von Wörtern aller Wortarten hervorgebracht!!! — Meine treuen Leserinnen und Leser werden nun meine Überschwänglichkeit dämpfen wollen: «Ach, was sollen jetzt dieser Begeisterungsschwall und die drei Ausrufezeichen? Solche protoindoeuropäischen Wortstämme gibt’s doch wie Sand am Meer, wie Eulen in Athen, wie Konsonanten im Polnischen! Davon sind doch die ‹Amuse-Bouche› voll!» — Das stimmt. Aber an ‹*trǝnk› ist doch etwas höchst erstaunlich! Dieses Etymon hat zwar, wie viele andere auch, seine Verästelungen in alle indoeuropäischen Sprachen getrieben, doch das Besondere daran ist, dass die Myriade von Zweigen, die aus dieser Wurzel gekeimt sind, bedeutungsmäßig so weit voneinander entfernt sind, dass ich keinen Augenblick zögere, die wissenschaftliche Leistung der Linguistinnen und Linguisten, diesen etymologischen Baum allein aufgrund morphologischer Studien von der Wurzel bis zu den unzähligen Knospen rekonstruiert zu haben, mit Leibniz’ Infinitesimalrechnung, Malpighis Begründung der vergleichenden Physiologie und mit der Heisenbergschen Unschärferelation zu vergleichen!

Legen wir los: Griechisch wurde aus ‹*trǝnk› → ‹τείρειν› [teírein] (reiben) und ‹τύρνως› [túrnos] (Zirkel). Aus dem ersten Wort bildeten sich über viele Zwischenstufen die deutschen Wörter ‹treiben›, ‹drehen›, ‹Darm›, ‹Draht›, ‹drechseln›, ‹Drall›, ‹drollig› und unzählige mehr; aus dem zweiten ‹turnen›, ‹Tour›, ‹Turnus›, ‹Tourist›… — Lateinisch generierte ‹*trǝnk› → ‹truncare› (verstümmeln, beschneiden, abhacken). Daraus entstanden das spanische und italienische ‹tronco› sowie das französische ‹tronc› (Baumstamm), das französische ‹trancher› (tranchieren) . — Im Altenglischen wurde aus ‹*trǝnk› → ‹đrāwan› (winden), was schließlich im Neuenglischen ‹to throw› (werfen) generierte.

Mit den Betrachtungen über den dichten Busch, der aus ‹*trǝnk› gewachsen ist und noch immer weiter rankt, könnte man ein ganzes Buch füllen. Nun machen wir hier aber Schluss, denn wir wollen ja endlich zum versprochenen ‹Dringen› vordringen. — Im Germanischen, Gotischen und Althochdeutschen wurde aus ‹*trǝnk› → ‹þraihan› [thräichan] (tränken). Mit Tränken war ursprünglich nicht gemeint ‹einem Tier zu trinken geben›, sondern ‹etwas Festes, zum Beispiel den Boden, den Acker, nass machen›. Erst später entstanden die von dieser Bedeutung abgeleiteten Wörter wie ‹trinken›, ‹Trank›, ‹Trunk›, ‹Drink›… — Bereits Althochdeutsch entstand aus der Vorstellung oder aus dem Wissen, dass beim Tränken des Bodens eben Wasser in den Boden dringt, das Verb ‹drancan› mit ziemlich genau der heutigen Bedeutung von ‹dringen›, ‹eindringen›. Von da an war es nur ein kleiner Schritt, das ‹Eindringen› von Wasser als Metapher für jedes ‹Eindringen› und ‹Dringen› zu verwenden. Im Mittelhochdeutschen findet man schon fast alle neuhochdeutschen Ableitungen und Verwendungen von ‹Dringen›. — (Achtung! Das Adverb ‹drin› ist trotz Ernst Jandls genialer love story (unbedingt lesen!!!) nicht von ‹dringen› abgeleitet, sondern ein Zusammenzug von ‹da› und ‹in› mit Fugen-R.)

Und was ist mit dem ‹Drängen›? — Nun, ‹drängen› tritt relativ spät (während des Übergangs vom Mittelhochdeutschen zum frühen Neuhochdeutschen) als Kausativ zu ‹dringen› auf. — Keine Angst! Kausativ tönt bloß wie etwas Kompliziertes, ist aber etwas ganz Banales: Von einigen Verben bildet sich mit der Zeit eine Zusatzform, die nicht mehr die Handlung oder den Zustand selbst beschreibt, die vom ursprünglichen Verb ausgedrückt wird, sondern die Ursache davon (Lateinisch ‹causa› = ‹Ursache›). So ist zum Beispiel zum Verb ‹fallen› der Kausativ ‹fällen›, zu ‹sitzen› ist es ‹setzen›, zu ‹liegen› ist es ‹legen› etc. — Manchmal sind im Infinitiv und in einzelnen konjugierten Formen der Kausativ und der Faktitiv (die nicht kausative Form) gleich. Zum Beispiel in ‹erschrecken›. Das Partizip davon unterscheidet sich aber: im Faktitiv ist es ‹erschrocken›, im Kausativ ‹erschreckt›.

Der Unterschied zwischen Drängen und Dringen ist also eindeutig: Was drängt beabsichtigt bloß zu dringen, ist aber noch nicht gedrungen, denn wenn es einmal gedrungen ist, braucht es nicht mehr zu drängen. Mir könnte es gleichgültig sein, wenn in meiner schlecht isolierten Wohnung die kalte Luft von draußen bloß hereindrängen würde! Was mir zu schaffen macht, ist, dass sie nicht bloß drängt, sondern tatsächlich dringt! — Seien wir aber großzügig und nachsichtig mit jenen, die es mit dieser (sehr nützlichen!) Unterscheidung nicht allzu genau nehmen, denn die Sprache selbst ist nicht wirklich konsequent. Das Adjektiv ‹dringend› beispielsweise wird, wenn man die Logik der Wortentwicklung streng anwenden würde, oft ‹falsch› verwendet: ‹Ich habe ein dringendes Anliegen›? — Eigentlich nicht! Es ist im Grunde vorerst nur ein drängendes Anliegen, von dem ich hoffe, dass es durch meine Bitte schließlich in die Hilfsbereitschaft derer dringt, die mir einen Wunsch erfüllen könnten. Wenn die Bitte jedoch nicht bis in ihr Wohlwollen vordringt, bleibt es beim Drängen. So wäre auch das Adjektiv ‹eindränglich› logischer als ‹eindringlich› und wer in der Warteschlange bloß ‹nach vorne drängt› sollte uns nicht nerven, solange er nicht wirklich ‹nach vorne dringt›. — Ohne den Sachverhalt methodisch untersucht zu haben, habe ich den Eindruck, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Sensibilität für die Unterscheidung zwischen Kausativ und Faktitiv nachlässt. Neulich sagte mir mein Steuerberater, als ich zu ihm ins Büro ging: «Bitte sitzen Sie!», aber ich stand ja noch! Und meine Nachbarin, als ich hinter ihr in die Waschküche trat, während sie eine Maschine startete: «Jetzt hast du mich erschrocken!» (Nein, meine Liebe, ich habe dich erschreckt; du bist es, die erschrocken ist!) — Die Linguistik kann solche Entwicklungen nur zur Kenntnis nehmen und allenfalls Empfehlungen geben. Ob diese Empfehlungen schließlich ins Bewusstsein der Sprecherinnen und Sprecher dringen oder bloß drängen, liegt nicht in ihrer Macht.

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